Es gibt eine schöne Tradition in München. Sie heißt – Sommer. Sommer gibt es viele. Andere Städte haben sich auch einen zugelegt. Aber das sind rein vergebliche Versuche, das Original zu kopieren. Das Oktoberfest feiert sich auch am saftigsten auf der Theresienwiese. Nicht auf dem Alexanderplatz. Wenn allüberall Stadtentwickler Sand verschütten und Strandfeeling kommandieren, da reicht dem Münchner München.
Der Münchner Sommer ist warm. Er leuchtet grün und blendet viel. Bei Tage ist er “nackert”, abends trägt er High Heels. Er glitzert und er rauscht. Er hat fettige Finger und verliert ständig seine Pfandmarken. Er ist da. Ich muss nicht rausfahren und ihn besuchen. Ich treffe ihn abends auf dem Heimweg. Wir setzen uns dann an die Isar und teilen uns ein Bier. Danach verabreden wir uns fürs Wochenende.
Der Münchner Sommer ist anders als andere. Er ist kein Ereignis. Er ist nicht die reiche Tante, die zu Besuch kommt, die man hofiert, die um Himmels Willen nicht einschnappen darf. Der Münchner Sommer ist der Freund, der mit dir wortlos durch die Stadt schlendert. Der dir verzeiht, wenn du ihn mal sitzen lässt und DVDs guckst im August. Am nächsten Tag ist er wieder da.
Der Sommer in München hat eine Nebenwirkung: Er macht abhängig. Wie alle Süchte, nimmt auch die groteske Züge an. Mein Freund Michael zum Beispiel: Er wohnt nicht in München. Er arbeitet nicht in München. Aber er hat eine Wohnung in München. In bester Lage nahe dem Englischen Garten. Reichlich Quadratmeter, die die meiste Zeit leerstehen. Tapezieren könnte er den Unterschlupf mit abertausend Bahntickets, die ihn seine München-Manie gekostet hat. Michael kommt nicht los.
Am letzten Wochenende war Michael wieder da. Anders als ein Eh-da-Münchner muss Michael seine knappe Teilzeit auf möglichst viel München verteilen. Das erfordert knallhartes Zeitmanagement. Anders als ein Eh-da-Münchner schickt mir Michael am Freitagabend eine E-Mail. Im Anhang: “Wochendprogramm.doc”.
München macht aus Michael wieder ein Kind. Eins, das sich absurd freut. Eins, das zwei Liter Cola intus hat. Ohne Michael darf ich mich an den Eisbach im Englischen Garten legen. Mit Michael muss ich reinspringen. “Los, komm! Das wollte ich schon immer mal machen!”
Wir reden hier nicht vom Fallschirmspringen oder davon, einen LKW mit den Zähnen zu ziehen. Aber der Eisbach hat Kraft. Auf den Beinen bleibt keiner, der sich reinstellt. Dann treibt man zehn Minuten. Da gibt es Schnellen, Untiefen und am Ende eine letzte Leiter, die man besser erwischen sollte. Für junge Menschen ist Eisbach-Treiben Spaß, für sonst einfach nur am Ufer Rumlieger halb verrückt.
Schneller als ich “Mach ich ihm eben die Freude” denken kann, steht Michael nur noch in Badehose vor mir und grinst erwartungsfroh. Wir lassen noch eben den Kerl auf dem aufblasbaren Krokodil mit dem Bier in der Hand an uns vorbeitreiben – und springen.
Ja, man kann auch beim Schwimmen eine schlechte Figur machen. Indem man “Mein Kreislauf! Mein Kreislauf!” ruft zum Beispiel. Oder sich an einer Mauer festkrallt und die Beine nicht aus dem Wasser kriegt, während eine Gruppe Bikini-Mädchen grazil wie in einem 40er-Jahre-Plansch-Film vorbeigleitet.
Blöd war’s. Aber schön blöd. Als Michael und ich prustend, nass und verschrammt an der Ausstiegsstelle stehen, schauen wir beide an uns herab, zählen die Finger durch, alles noch dran. Ich schaue zu Michael, dessen Gesicht schaltet von Adrenalin auf Lächeln: “Noch mal!”
Der Münchner Sommer ist auch unersättlich.