Out of Bütow

Mama fährt bei Hansi mit. Sagt sie, und hakt sich bei Hansi ein. Sie gehen beide über den Friedhofsparkplatz in Richtung Hansis Auto. Ich guck Papa an über das Dach seines Opels. „Hansi ist ein alter Freund Deiner Mutter.“ Ah, denke ich. Wir steigen ein. Nix besonderes also. „Sechs Wochen, bevor ich Deine Mutter kennengelernt habe, waren die noch zusammen.“ Bitte?! „Also Ex-Freund, Papa!“ Mein Vater schmunzelt und dreht den Schlüssel um. 

Ich mag Beerdigungen. Bis Mitte dreißig war ich nie auf einer. Jetzt bin ich ein-, zweimal im Jahr auf einem Begräbnis. Das liegt am Alter. Heute war Tante Rosi dran. Eine echte Tante war sie zwar nicht, also nicht blutsverwandt. Aber so sehr beim Wort „blutsverwandt“ ein irrer SS-Arzt in meiner Fantasie auftaucht, genauso gehörte Rosi echt zur Familie.

Ich mag Beerdigungen. Weil sie gerne grotesk werden. Sie zwingen uns, anderthalb Stunden all das auszuhalten, was wir sonst jeden Tag wegleugnen: Tod, Abschied, Tränen. Jeder geht damit anders um. Mein Vater zum Beispiel piesackt mich mit ollen Beziehungskamellen. Macht er sonst eher nicht. Ich denke Sätze wie: „Papa, ich kenn da einen, der erledigt das mit Hansi. Ein Wort von Dir genügt.“ Mach ich sonst eher auch nicht.

Wir fahren vom Parkplatz. Hab ordentlich geheult eben in der Kapelle. Würde ich jetzt nicht in einem Randzeittermin mit meinem Sparkassenberater machen. Aber irgendwie bin ich in den letzten Jahren wieder auf den Geschmack gekommen. Weinen hat etwas reinigendes, läuterndes. Als ob man mal eben feucht durchwischt durch die Seele. Und viel anderes bleibt einem ja nicht übrig – im November, im Nebel, am Niederrhein.

Der Leichenschmaus im „Schwarzen Baum“ ist klassisch wie gehäkelte Untersetzer: klare Brühe, belegte Brötchen und Kaffee bis zum Gehtnichtmehr. „Da hasse aber wieder ’n echten Bodensee zusammengeplörrt!“ – „Wie meinze?“ – „Der is so dünn, da kannze vonne Tasse den Boden durch sehn!“ Der Wirt knurrt und schlurft zurück hinter seinen Tresen. Der „Bodensee“-Witzbold begluckst seinen Volltreffer. Eine Szene wie einem Provinzkrimi im Ersten. Fehlt nur noch der Dorfbulle. Ich bestell mal besser ein Bier.

Außer meinen Eltern und mir hat sich nur eine Handvoll Menschen eingefunden. Die meisten kommen von der Kolpingsfamilie, aber viele sind das auch nicht mehr.

Während ich dem Wirt zugucke, wie er drüben hoffentlich schnell mein Bier zapft, hat mein Sitznachbar genug von der gefräßigen Stille: „Viele wissen das gar nicht! Nicht der Kapitän, der Funker geht zuletzt vom sinkenden Schiff.“ Ich dreh mich um zu ihm: „Wie bitte?“ Der alte Mann ist gezeichnet, seine Stimme bibbert, aber meine Begriffsstutzigkeit bringt ihn in Fahrt. „Der Funker! Nicht der Kapitän! Der Funker geht zuletzt von Bord.“ – „Ach so.“ – „Ich kannte einen Funker auf der Gustloff. 18 Jahre, der arme Bursche. Zwei Stunden trieb der im Eiswasser. Und dann fünf Jahre russische Gefangenschaft. Fünf Jahre! Der redet da nicht gerne drüber.“ Auf Beerdigungen werden Erinnerungen hervorgekramt. Und der Krieg ist eine Erinnerung, an der Rosis Generation immer noch zu knapsen hat.

Was ich jetzt erfahre: Tante Rosi kam damals ein Schiff vor der Wilhelm Gustloff raus aus Pommern. In Dänemark kam sie ins Lager. Die kratzige Decke, unter der sie damals schlief, hab jetzt ich. Auf dem Speicher habe ich zwei Schranktüren drin eingewickelt. Die Menschenfresser Hitler und Stalin hatten Rosi zum Einzelkind und zur Halbwaise gemacht, bevor sie am Ende ihrer Flucht am Niederrhein angespült wurde.

Die miesepetrigen Schrumpfnazis von der AfD gab es ’45 zwar noch nicht. „Refugees Welcome“ aber auch nicht. Flucht war damals der gleiche Mist wie heute. Die Geschichte kaut dein Leben durch, schluckt runter, was dir am liebsten ist, spuckt aber dich aus auf irgendeinen Fleck auf der Landkarte. Rosi bekam nie glasige Augen, wenn sie vom Niederrhein sprach. Aber wenn sie von „meinem Bütow“ erzählte.

Das Bier ist alle. Die Kolpingsfamilie sattelt die Rollatoren. Zu Hause werde ich mal schauen, ob ich nicht noch ein paar Sachen von meiner Tochter finde, die ich im Flüchtlingsheim bei mir um die Ecke abgeben kann. Mach ich sonst eher auch nicht.