Lebensheiser

Ich kann das nicht nachmachen, dieses Nuscheln. Es klang, als würde Ottfried Fischer die Lottozahlen vorlesen und dabei Gummibärchen naschen. Meine zweieinhalb Jahre alte Tochter weiß zwar nicht, wer Ottfried Fischer ist, aber komisch fand sie das Nuscheln auch. 

Wir stehen an der Fleischtheke. Ich, seit zweieinhalb Jahren uneinsichtig, warum ich samstags genauso früh aufzustehen habe wie an jedem gottverdammten Tag unter der Woche. Sie, uneinsichtig, warum es keine Kekse zu kaufen gibt beim Metzger. Der Argumente sind genug gewechselt. Sie schreit. Ich glupsche auf die Kondenswassertropfen, die an der Innenseite der „Heißen Theke“ herabrinnen.
Da reiht sich ein älterer Herr hinter uns in die Schlange ein. Er schaut meine plärrende Tochter an. Meine plärrende Tochter schaut ihn an. Er sagt: „Hachmja, dams Lebem ippst schon eims der schwermsten!“ Meine Tochter erstarrt. Meine Tochter plärrt nicht mehr.
Ich weißt nicht, was es war, das meine Tochter so schlagartig mundtot gemacht hat. Die Schwere der Erkenntnis, dass das Leben eines der schwersten ist und sie davon noch reichlich vor sich hat? Vielleicht. Vielleicht war es auch die Gesamterscheinung des älteren Herrn, diese Mischung aus senioriger Zerupftheit, weisem Phlegma und dazu noch ein schleierhafter Sinnspruch.
Was es aber garantiert nicht war: Der ältere Herr war nicht irgendwer, sondern ein berühmter Journalist. Also berühmt für alle Kinder des ausgehenden Kalten Krieges wie mich. Jeden Abend habe ich ihn damals vor dem Kreml stehen sehen, wie er gerade die Weltlage erklärt. Verstanden habe ich ihn damals schon nicht. Heute ist er offenbar mein Nachbar.
Seit jenem Tag begegne ich dem Fernsehmann a.D. beinahe einmal die Woche: bei der Post, im Drogeriemarkt, am Kiosk. Was mir bestimmt nicht aufgefallen wäre, hätte ich ihn an der Fleischtheke nicht als den erkannt, der er ist. Ich überlege jedes Mal, ob ich ihn nicht ansprechen soll. Nicht, weil ich ihn aus der Tagesschau kenne. Sondern weil, je länger ich ihn zufällig beobachte, mich sein Sein beeindruckt.
Er strahlt in den drei Augenblicken, die ich ihn jeweils sehe, so eine Ruhe aus. Wie er da minutenlang seinen angeknackste Körper in seinen Kleinwagen manövriert. Ohne zu zetern, es dauert eben so lange. Wenn er Briefmarken kauft, beschränkt er sich nicht auf zwei verschämte Stichworte, sondern bestellt in aller Eloquenz. Seinen Sprachfehler trägt er mit Stolz vor sich her wie andere eine Narbe, die sie aus der Schlacht ihres Lebens davongetragen haben. Er ist eben heiser vom Leben.
Wahrscheinlich überinterpretiere ich maßlos. Aber mir gefällt die Vorstellung, das auch ich am Ende von allem einfach zufrieden bin. Nicht weiterhechle, bis ich umfalle. Oder wehklage, was ich nicht noch alles hätte tun müssen. Oder wehklage, zu was ich alles nicht mehr im Stande bin.
Ja, doch, jetzt bin ich mir ganz sicher. Seine Ausstrahlung war’s, die meine Tochter so schlagartig beruhigt hat. Dafür sage ich ihm nochmal danke.