“Magst ein’ Honig?” Der kleine Mann mit dem roten Kopf zeigt auf eine schwarze Sporttasche zu seinen Füßen. Ich erkenne ein gutes Dutzend Gläser. “Wie bitte?” – “Hooo-nig!” Das Drängen des Gedrungenen passt gut in die Zeit. Immerhin ist es Samstagmorgen. Da werden entweder Autos gewaschen oder eben Einkäufe erledigt. Ein Auto habe ich nicht, vom Einkaufen komme ich gerade. Aber Honig? Der ist für mich das, was er eben ist: Insekten-Kotze. Und wenn es mich doch einmal danach gelüsten sollte, dann kaufe ich ihn bestimmt nicht hier. Auf dem Bürgersteig vor der chemischen Reinigung, zwei Gehminuten weit weg von meiner Wohnung. “Danke, aber nein.”
Ich bin schon anderthalb Schritte weiter, da höre ich: “Bitte! Ich habe alles verloren!” Ich drehe mich um und sehe einen waidwund dreinblickenden Honig-Mann. Er erzählt, wie das große Inn-Hochwasser sein Hab und Gut weggerissen habe und dass er den selbst produzierten Honig nun dringend verkaufen müsse, um sich und seiner Familie ein neues Heim zu bauen. Mit den verstruwwelten roten Haaren und den abgestoßenen Klamotten versprüht er tatsächlich die Kernigkeit des Selbstversorgers. “Das tut mir sehr leid. Aber ich brauche wirklich keinen Honig, danke.”
In der Früh bin ich indiskutabel, im Sinne von unzumutbar und unleidlich, der Volksmund spricht von Morgenmuffel. Ich kenne das an mir, und als meine Einkäufe und ich gerade die vier Stockwerke zu meiner Wohnung emportrotten, da fällt es mir auch wieder ein. Und ich schäme mich. Hätte ich ihm doch einfach seinen dusseligen Honig abgekauft! Hätte mich wahrscheinlich weniger gekostet als der andere Blödsinn, für den ich tagtäglich Geld ausgebe. Aber jetzt noch mal zurücklaufen? Wahrscheinlich ist er längst nicht mehr da.
So ist das mit dem guter Mensch Sein. Mit praktisch null Einsatz könnte man jemandem Glücksgefühle verschaffen wie nach einem Lottogewinn. Bequem ist das nicht. Und keiner kann garantieren, dass der Penner mit dem abben Bein meine zwei Euro nicht in Tankstellen-Korn investiert. Und wenn schon! Soll er doch. Im schlimmsten Fall verliere ich zwei Euro. Aber so was denkt ja heute keiner mehr. Stattdessen fragt man sich: Was nützt das mir? Und es regiert ein Misstrauen, als wäre vorgestern die Zombie-Apokalypse losgebrochen. Ich seh’s ihm an! Der will nur mein Gehirn fressen!
Ich bin der Letzte, der die Courage-Keule schwingen sollte. Auf der Haben-Seite meines Karma-Kontos stehen gerade mal ein Krankenwagen, den ich einem Betrunkenen zur Hilfe rief, weil der mit seinem matschig gehauenen Gesicht selbst keinen verständlichen Notruf mehr absetzen konnte, und eine aus dem Baum gerettete Katze. Die gehörte allerdings meiner Mutter. Also gab es von vornherein keine Alternative zur “Operation Putzi”.
Keine 20 Minuten bevor ich den mittellosen Imker auf der Straße getroffen hatte, stand ich noch im Supermarkt an der Kasse an und sah, wie an der Nachbarkasse ein Mann an einem dieser Zigarettenspenderautomaten verzweifelte, die uns heute unsere Nikotinrationen zuteilen. Er hatte mit der Linken den DIN-A4-großen Zettel angehoben, der mit einem Tesastreifen auf dem Automaten aufgeklebt war, und malträtierte mit der Rechten die Tasten darunter. Auf dem Zettel stand: “Automat defekt”. Anstatt etwas zu sagen, ließ ich den Mann weiter den Automaten boxen, bis er “Scheißdreckskackautomat!” brüllte.
Oh Gott, bin ich schlecht! Denke ich mir jetzt, lasse die tauenden Tiefkühlerbsen weiter tauen, greife mein Portemonnaie und laufe hinunter auf die Straße. Der Honig-Mann will gerade gehen. “Halt! Stop! Ich brauche noch Honig!”
Selbstverständlich sollte man für Almosen keinen Dank verlangen. Sonst ist man wenig besser als der Kolonialherr, der dem “Negerlein” einen Krumen Brot hinwirft und sich am anschließenden Tänzchen ergötzt. Aber etwas mehr Euphorie hätte ich vom Herr der Bienen schon erwartet: “Is aus.” – “Ehm, ja, aber …” – “Preißelbeeren hätt’ ich noch.” Statt als edler Fluthelfer fühle ich mich wie ein Kunde im Baumarkt: Hammwa nich, kriengwa auch nich mehr rein. “Na dann eben Preißelbeeren”, sage ich und halte dem ehemaligen Honig-Mann einen Fünfer hin. “Nee, fünfzehn Euro.”
Wieder zuhause stelle ich die Preißelbeeren in den Vorratsschrank und stelle mir vor, wie deren Erzeuger gerade in die Aral-Tankstelle um die Ecke geht, um lecker Doppelkorn einzukaufen. Und wenn schon.