Bettina hat noch Plätze frei. Hat sie oft. Ich weiß das, denn dann schreibt sie mir eine E-Mail. Bettina bietet Sportkurse an. Nordic Walking, Wirbelsäulengymnastik, Yoga, so was. Gerade liegt Bettina wieder in meinem Posteingang rum. Sie sucht dringend Leute für einen Pilateskurs nächste Woche. Ich überlege noch.
Ich stehe seit fünf Jahren in Bettinas Kundenkartei. Ich hab ja Rücken, einen langen nämlich. Und untendran steht auch noch was schief, sagt mein Arzt. Nix tragisches, gar nicht. Aber damit es so bleibt, muss ich was tun. Nicht “Ich muss dringend mal wieder was tun”, sondern echt jetzt. Jeden Sommer laufe ich, jeden Winter nehme ich mir vor, auch im Winter zu laufen. Klappt aber eher nicht so gut. Dachte ich also, probierst du mal was neues aus zwischen Oktober und März. Sport mit Anschluss und Gruppendruck.
Zuerst hatte ich überlegt, bei einer dieser Bootcamp-Chaingangs anzuheuern, die morgens um fünf Schlamm fressen gehen im Park. Die brüllen sich gegenseitig über zwei Meter hohe Wände und spielen Völkerball mit leeren Bierfässern. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Schlamm. Aber wenn ich tatsächlich scharf drauf wäre, geschlechtsüberreifen Jungs mehrmals die Woche dabei zuzusehen, wie sie ihr Hirn auf Sparflamme runterblöken, dann würde ich professionell Junggesellenabschiede organisieren.
Nein, ganz, ganz anders sollte mein neues Sportlerlebnis sein. Ich wollte dahin gehen, wo noch nie zuvor ein Mann war. Ich fand diesen Ort. Die Turnhalle eines AWO-Altenzentrums, irgendwo im Münchner Norden. Hier macht Bettina ihre Kurse.
Bettina und ich haben uns im Internet kennengelernt. Also vielmehr ich sie, weil ich sie ergoogelt habe: “Rücken Kurs München”. Rückenpilates klang annehmbar für mich. Selbst wenn ich das “Powerhouse”, um das sich alles dreht beim Pilates, etwas dämlich benamst finde. Das ganze erschien mir immer noch ungeschminkter als all das Yogazeugs, das ja auch ganz toll sein soll für den Rücken und die Ausgeglichenheit und einfach alles. Bettinas Kurse sind geeignet für Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts. Besucht werden Bettinas Kurse von Frauen mittleren Alters. Und von mir.
Als ich da saß zum ersten Mal in der kleinen Souterrain-Turnhalle, unter mir die Gummimatte, neben mir ein Gummiband, um mich herum ein Dutzend Damen, die in der Vorstellungsrunde allesamt gesagt hatten, sie müssten dringend mal wieder was tun, da konnte ich mich gar nicht wehren und der innere sexistische Kackscheißtyp flüstert ganz, ganz leise: “Ach Mädels, Euch zeig ich doch mal, wo das Powerhouse sitzt.” Tja.
Während ich seitlings versuche, ein Bein und meinen Hintern in der Luft und den Rücken gerade zu halten, merke ich, dass ich mich gleich mal auf die falsche Seite gedreht habe. Also schaue ich direkt ins Gesicht von Rita. Rita muss so ungefähr sechzig sein und sie hat offensichtlich die Atombunkerversion eines Powerhouses. Mich schüttelt gerade der dritte Krampf im Bauch. Sie lächelt. Die Macker-Miene, die eigentlich ich mir ausgesucht hatte, hat sich Rita geschnappt.
Der sexistische Kackscheißtyp, die feige Sau, hat längst einen Abgang gemacht. Nicht, dass dieser Wicht bisher eine große Rolle gespielt hätte in meinem Leben. Sonst säße ich jetzt nicht hier, sondern würde leere Bierfässer durch den Englischen Garten werfen. Aber ein bisschen anders hatte ich mir das schon vorgestellt. Einen Hauch körperliche Überlegenheit spüren, nur für einen kleinen Moment, Hand aufs Herz, das haben auch moderne Memmen ganz gerne.
Nach einer Dreiviertelstunde habe ich die Hölle durchschritten. Bauch, Beine, Po, in allen Disziplinen haben mich Rita und die anderen aussehen lassen wie einen gestrandeten Wal ohne Flossen. Vielleicht kann ich wenigstens beim Dehnen noch ein bisschen Ergebniskosmetik betreiben, denke ich mir. Und tatsächlich, Dehnen kann ich. Es ist wie diese Szene aus Full Metal Jacket: Private Paula, der dicke, dauergrinsende Rekrut, der während der ganzen Grundausbildung nichts auf die Reihe gekriegt hat und deshalb übel Prügel von seinen Kameraden bezog, ballert sich auf dem Schießstand ins Herz seines Drill Sergeants. Der brüllt: “Wie’s scheint haben wir doch noch was gefunden, das Sie können!”
Drill Instructor Bettina dreht eine letzte Runde durch die Pilates-Gruppe, um zu kontrollieren, ob wir auch alle das richtige dehnen. Bei mir bleibt sie stehen, als ich gerade meinen rechten Fuß in Richtung Nacken zerre. “Du bist aber ganz schön gelenkig, Andreas.” Ich grinse dämlich, wie noch nie ein Private Paula dämlich gegrinst hat. Aber Bettina war noch nicht fertig: “Für einen Mann, meine ich.”