Seit Montag sind wir wieder im Lockdown. Das sei ein “Lockdown light”, sagen manche. Doch “Light” zählt dank Zigaretten eher zu den schlecht beleumundeten Begriffen. Und genauso isoliert und abgeklemmt wie im März fühlen wir uns eh. Ganz anders als beim ersten Lockdown kommt mir die emotionale Ausgangslage vor: kein Anflug von Trotz mehr und auch keine Hoffnung, ein bisschen “Topfschlagen auf dem Balkon” rüberzuretten nach Post-Corona. Was wir brauchen, ist ein Nachschlag Gemeinschaftsgefühl.
Willkommen zur Eskapade!
1 Buch
Ich weiß nicht recht, woran es liegen mag, aber es steht fest, mein Buchgeschmack hat sich gewandelt mit Corona. Plötzlich schrecke ich auch vor rührselig-lehrhaften Stoffen nicht zurück. Thomas Hettches fabelheftige Geschichte “Herzfaden” über ein Mädchen, das sich auf dem Dachboden der Augsburger Puppenkiste verliert und zusammen mit den Marionetten in die Vergangenheit des Landes reist, habe ich, nun ja, gerne gelesen. Ich sollte mich auf Morbus Coelho testen lassen!
“Der Wal und das Ende der Welt” von John Ironmonger ist auch erbaulich und laienphilosophisch. Obwohl 2015 erstmals erschienen, wird es als das Buch der Stunde gesehen. Denn es handelt davon, wie sich in Gemeinschaft auch eine weltuntergangsgleiche Krise überstehen lässt. In einem Fischerdorf in Cornwall wird ein Ex-Banker angespült. Der sorgt anschließend dafür, dass die 300 Bewohner ihr Kräfte vereinen und dem Weltuntergang trotzen, während in der Welt da draußen die Grippe grassiert und die Finanzmärkte implodieren.
Wer wegen des Weltendes im Titel auf apokalyptische Hochspannung à la “The Walking Dead” hofft, wird sehr enttäuscht werden. “Der Wal und das Ende der Welt” ist Endzeitprosa zum Wohlfühlen. Aber wer sagt denn, dass Hobbes’ Philosophensatz vom Menschen, der dem Menschen Wolf sei, wirklich sein muss? Ständig ausverkauftes Toilettenpapier, meine ich, ist kein hinreichender Grund, den Stab zu brechen über einer ganzen Spezies. Aber das ist vermutlich nur der Morbus Coelho, der aus mir spricht.

1 Platte
Wenn wir uns Gedanken machen über Gemeinschaft, müssen wir auch anerkennen, dass mehr Menschen mehr Konfliktpotenzial haben als wenige. Womit wir bei den Les Humphries Singers sind. Die hatten ihre weltumspannende Gute-Laune-Gemeinschaft zum Markenkern erhoben. Das heißt, der Bandleader Les Humphries hatte das getan. Der Ex-Marine aus England war Ende der 60er-Jahre nach Deutschland gekommen und ahnte, dass sich auf dem Rücken der Hippie-Welle die ein oder andere Million verdienen ließ.
Wie viele Millionen tatsächlich zusammenkamen, dürfte auch das deutsche Finanzamt interessiert haben, vor dessen Zugriff sich Humphries Ende der 70er in seiner Heimat entzog. Über 40 Millionen Tonträger hatte die Band bis zu Ihrer Auflösung 1976 abgesetzt. Das Erfolgsrezept war einfach: Junge Menschen verschiedenster Herkunft spielen auf der Bühne Weltfrieden und singen dazu Gospel und Spirituals. Tatsächlich waren die Les Humphries Singers eine Band vom Reißbrett. 20 Jahre später hätte man sie Projekt genannt.
“We Are Goin’ Down Jordan” aus dem Jahr 1970 ist das Album, das mit dem gleichnamigen Lied auch die erfolgreichste Single der Les Humphries Singers enthält. 29 Wochen stand “We Are Goin’ Down Jordan” in den deutschen Charts. Wie man es von einer Gelddruckmaschine erwartet, ist das ganze Album aber nur ein lapidar wegzuhörender Klangteppich. Der Musik fehlt jede Spannung. Das mag daran liegen, dass die Band keine Spannungen aushielt, wie man es von einer tatsächlichen Gemeinschaft erwarten würde. Sobald der Erfolg weg war, war auch das Projekt verschwunden.
Bis nächste Woche!
Andreas
Links
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt (fischerverlage.de)
Les Humphries Singers: We Are Goin‘ Down Jordan (Spotify)
Thomas Hettche: Herzfaden (kiwi-verlag.de)
Mehr Silberstreif geht nicht: 6 Covid-19-Impfstoffe sind nur eine Stufe entfernt von der vollen Einsetzbarkeit (nytimes.com)
Unermüdlicher “Chance als Krise”-Rufer: Matthias Horx: Die Welt nach Corona (horx.com)
Bücher, die hier vielleicht bald auftauchen (goodreads.com)
Platten, die hier eventuell einmal besprochen werden (discogs.com)