Sieben Kilometer Luftlinie von hier tragen die vier Apokalyptischen Reiter den großen Preis von Neukölln aus. In Berlin-Mitte tanzt der Antichrist auf einem illegalen Rave. Zumindest meine ich, genau das in den Nachrichten-trüben Gesichtern der Menschen zu lesen. Meine Mutter berichtete vor zwei Tagen am Telefon, dass “zur Stunde” wohl irgendjemand mit der Kanzlerin rede und im Anschluss “die 50” auf eine 35 herabgesetzt werden solle. Was genau bei Eintritt der 35 geschehe, das ging im Faktenhagel des ntv-“News Spezials” zur Corona-Krise unter. Im Anschluss: “Mega-Maschinen – Baggerschiff der Superlative”. Man könnte meinen, das ganze Leben marschierte inzwischen im Ticker-Schritt vorbei. Man könnte.
1 Platte
Die Soziologie bietet eine sehr wohltuende Erklärung an für die derzeitige Stimmungslage. Weil nämlich in unserer progressiven Welt so viel mehr Möglichkeiten für jeden einzelnen bestünden, müssten durchs Aushandeln sehr viel mehr Interessen in Einklang gebracht werden. Zack, Spannung! Peng, Streit! Der Hildmann, der Gauland, der Trump, alle zusammen wären nur der Dehnungsschmerz einer sich ausbreitenden besseren Welt.
Die Erklärung ist nicht einmal kompliziert, höchstens komplex, aber selbst das strengt an. Manche zu sehr. Sie flüchten sich in krude Theorien oder sogar auf diese kanadische Herrenmenschen-Insel von Eva Herman. Ich für meinen Teil habe Heavy Metal, um die lärmende Komplexität kurzzeitig zu übertönen.
‘Live After Death’ von Iron Maiden ist vermutlich das beste Metal-Album, das ich je besessen habe. Das liegt einerseits daran, dass das Album großartig ist. Andererseits besitze ich echt wenig Metal-Platten. Der melodiös-eingängige Rock von Iron Maiden war schon immer was für Schönwetter-Metaller wie mich. Das gruselige Maskottchen und die trüben Geschichten (Luftkampf über London, abgespannte Golfkriegsveteranen) überdecken lediglich die musikalischen Ausreißer ins Fast-Poppige.
Wem der Kopf schwer ist von zu viel Dehnungsschmerz, der sollte ihn für 100 Minuten ausschalten und ‘Live After Death’ hören.
Arto Paasilinna: Für eine schlechte Überraschung gut
1 Buch
Die Ratgeberliteratur zum Thema Resilienz füllt ganze Bücherregale. Offenbar verursachen die Zeiten, in denen wir leben, einen großen Durst nach dem Wissen, wie umzugehen ist mit Schicksalsschlägen und anderen gravierenden Eingriffen in den Plan, den wir uns zurecht gelegt hatten für uns. Diesen Lebenshilfe-Fibeln muss ein Buch hinzugefügt werden, das garantiert auf keiner Coaching-Leseliste zu finden ist. Ach Quatsch, ich will alle Bücher von Arto Paasilinna all jenen anempfehlen, die auf der Suche sind nach Widerstandskraft fürs Nervenkostüm.
Arto Paasilinna ist eine nationale Institution in seiner Heimat Finnland. Der alljährliche Paasilinna gehörte zum finnischen Herbst wie das Ende der Krebssaison. 35 Romane hatte er inzwischen geschrieben, als er Ende 2018 starb. Was allen Büchern gemein ist, ist die absurde Fantasie, mit der Paasilinna Hasen, Gott und Menschen ihre Schicksale erleben lässt. Mit derber Einfachheit und einem Tiefsinn, der erst streichelt und dann zuhaut, gehört Paasilinna zu den Hohepriestern des globalen Humors.
Paasilinna mag einem nicht jederzeit modern vorkommen, wenn er den finnischen Mann in seinem unwirtlichen Habitat beschreibt. Die Lakonie aber, mit der seine Heldinnen und Helden das Leben leben, hat eine hochaktuelle Frische, wenn wieder jeder redet, aber nicht alle was zu sagen haben.