Radikale Restanständige

Knapp war das. Mein Wochenprojekt (Codename: Magenta ist das neue Schwarz) konnte erst kurz vor Drucklegung dieser Eskapade abgeschlossen werden. Zweimal waren Magenta-Männer da, dann blieb auch der Bildschirm nicht mehr schwarz. Ich setzte Geräte zurück und meine soziale Stellung aufs Spiel. Denn statt im Leben fand ich Freunde und Hilfe in Foren. Jetzt kann ich nachvollziehen, wie Menschen “im Netz” ins Radikale abrutschen. Ich wollte keine 72 Jungfrauen. Doch für 50 MBit hätte auch ich alles getan. Wirklich alles.

Radikale aller Länder!

Leser Andreas schrieb mir mit Bezug auf die letzte Eskapade, die ja retrospektiv mäanderte durch die Sommerpause, eine Erklärung für den sommerlichen Dünnpfiff, der sich Nachrichten nannte, könne doch sein, dass alle “guten” Journalisten außer Landes waren, und die zweite Redaktionsgarde die Stallwacht übernahm, mithin nicht das dürftige Themenangebot, sondern die mindere Umsetzungskompetenz verantwortlich war fürs “Nix verpasst”. Das ist eine interessante These, die nur eine logische Schwachstelle hat: Inzwischen sind alle wieder da. Und besser scheint es nicht geworden.

Nehmen wir zum Beispiel den anstehenden Untergang unserer Demokratie. Der nimmt zur Stunde in Dresden/Chemnitz seinen Anfang und, glaubt man den Restanständigen, wird unausweichlich dazu führen, dass an Heiligabend in ganz Deutschland blonde Mädchen und stramme Jungs vor der Nordmanntanne den rechten Arm recken und dem Führer ein brüllend Dank entbieten fürs neue iPhone. Wenn, ja wenn wir Republikaner nicht Radikale werden und endlich Schluss ist mit “Defätismus und Appeasement”.

Auf der Goldwaage

Sollte es stimmen, dass Worte wieder auf die Goldwaage gehören, muss genau hier an die Blutspur erinnert werden, die nationalsozialistische Standgerichte durchs schon untergehende “Dritte Reich” zogen um eben “Defätismus” auszumerzen. Und wenn der grobzwitschernde Feuilletonist diesen Zusammenhang nicht ganz von allein sieht, muss das wohl heißen: Es zieht grad ziemlich kalt rein im Bildungsbürgerhaus.

Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
Radikale Republikaner

Jedem Radikalismusschwärmer kann ich dank jüngster Foren-Forensik (“DANKE, TELEKOM!!11!”) empfehlen, “im Netz” die eigenen Befunde hoch zu induzieren. Radikalismus stellt sich dann ein von ganz allein. Historische Einordnungen hinsichtlich der Zerstörungswut gen Staat, die in den Siebzigern das Gemeinwesen tatsächlich ins Wanken brachte, werden in der Blase herrlich ausgeblendet. Auch nüchterne Befunde spielen keine Rolle, wenn man unter sich bleibt. Dass das anständige Chemnitz jetzt eine überfällige Öffentlichkeit erfährt, dass Politiker mehr Geld schicken wollen für Bildung und Projekte, dass der LKA-Pegidist nicht mehr Dienst tut beim LKA, dass der Haftbefehl-Blower sich gestellt hat wegen des hohen Fahndungsdrucks. Man könnte sagen, der Rechtsstaat hätte durchgegriffen. Aber Framing funktioniert in viele Richtungen.

Er ist wieder da

Der radebrechte Unsinn der gutmeinenden Influencer soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es echte Probleme gibt im Osten und im Westen. Die allerdings nicht gelöst werden von schäumenden Republikaner, die die Pickelhaube aufsetzen, sondern politisch, besser ganz ohne Schaum, und vielleicht mit Komik. In Amerika hat sich die Linderung durch Comedy [Blendle] längst entwickelt zum Balsam auf einer Gesellschaft, die geschunden wird von Dummheit auf allerhöchster Ebene. Weil den Medien je nach politischer Stammeszugehörigkeit nicht mehr über den Weg getraut wird, macht die Komik den Medien inzwischen sogar den Aufklärungsauftrag streitig.

“Er ist wieder da” von Timur Vermes war 2014 ein komischer Sensationserfolg, den ich gar nicht komisch fand, und deshalb nie zu Ende gelesen habe. Erst am vergangenen Wochenende habe ich deshalb mit drei Jahren Verzögerung den Film gesehen. Und war begeistert. Nicht wegen des Stoffs, sondern wegen der langen Mockumentary-Sequenzen, die Regisseur David Wnendt eingebaut hat. Da steht der Führer in Brandenburg in einer Kneipe, raunt ganz zusammenhangslos Heines “Denk ich an Deutschland in der Nacht”, und dem Publikum laufen die Tränen. Anschließend war dann ich um den Schlaf gebracht. So aufrüttelnd, beklemmend, und ja, offenbar zum Nachdenken zwingend, empfand mein radikalrepublikanisches Herz den Film.

Jetzt erscheint Timur Vermes’ neues Buch, das der Verlag so tumb in die Nachfolge des Vorgängers stellt, dass er aufs Cover sogar ein “Vom Autor von …” drucken lässt. Ich hoffe, der Inhalt ist eleganter als das Marketing. “Die Hungrigen und die Satten” verhohnepiepelt die Flüchtlingskrise. Dem Thema täten ein paar aufklärend-bittere Lacher weiß Gott gut.

Kabel calling

Vom Buchladen geht’s des Samstags ja traditionell in den Supermarkt. Der heutige musikalische Rausschmiss liefert dieser Routine den Soundtrack. 1979 besangen The Clash das desillusionierte Vorstadtleben, das im Umherirren im Supermarkt sinnfällig wird. Gut, dass es dagegen inzwischen Apps gibt.

Die philosophisch eindringlichste Frage kommt zum Schluss: Warum braucht man viele Meter Kabel, um sich mit kabellosem Internet zu versorgen? Wenn darauf alle Flugtaxi-Ingenieure, die hier mitlesen, mal zwei, drei Gedanken verschwenden könnten, bitte. So muss ich morgen wohl oder übel einen Tag lang die kabeligen Überreste der Telekom-Episode zu verheimlichen versuchen – in seiner radikalsten Form!

Bis nächste Woche

Andreas

p.s. Wenn Dir gefällt, was Du gelesen hast, leite “Die Eskapade” doch an einen Patrick Bahners aus Deinem Freundeskreis weiter. Die ersten drei Empfehler gewinnen einen Satz schwarz-rot-goldene WLAN-Kabel. Oder Du abonnierst sie hier.